Kleine Tugendlehre – Teil 1

Ein Lob der Tugend

Weiter, liebe Brüder: Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein,
was liebenswert, was einen guten Ruf hat, sei es eine Tugend, sei es ein Lob -
darauf seid bedacht.
Philipper 4, 8

So wendet alle Mühe daran und erweist in eurem Glauben Tugend und in der
Tugend Erkenntnis und in der Erkenntnis Mäßigkeit und in der Mäßigkeit
Geduld und in der Geduld Frömmigkeit und in der Frömmigkeit brüderliche
Liebe und in der brüderlichen Liebe die Liebe zu allen Menschen. Denn wenn
dies alles reichlich bei euch ist, wird's euch nicht faul und unfruchtbar sein
lassen in der Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus.
2. Petrus 1, 5-8

Von Tugend zu reden fällt uns nicht leicht. Jedenfalls uns Evangelischen nicht.
Denn schließlich haben wir es gelernt, ja regelrecht mit der Muttermilch
aufgesogen, dass wir durch die Gnade allein gerettet sind. Sola gratia – die
alleingenügsame Gnade –, das ist der Grund unserer Existenz als Christen. Gott
tut alles, und wir können nichts – oder fast nichts – tun. Welchen Platz hat da
überhaupt das Reden von „Tugenden“? Schmeckt dieses Wort nicht nach
Werkgerechtigkeit, danach, dass wir uns selbst unser Heil basteln wollen? Und
riecht es nicht nach moralischer Selbstverbesserung, danach, dass man sich
selbst einen höheren Stand erarbeiten will, von dem aus man dann die anderen
herablassend beurteilen und vielleicht auch verurteilen kann?

Tugend in der Bibel

Im Alten Testament kommt das Wort Tugend nur einmal vor, in der Geschichte
von Ruth. Boas sagt ihr: „Alles, was du sagst, will ich dir tun; denn das ganze
Volk in meiner Stadt weiß, dass du ein tugendsames Weib bist.“ (Ruth 3,12)
Ganz wörtlich nennt Boas sie eine „eschet chail“, „eine Frau der Kraft.“
Der Sinn ist hier eindeutig – Ruth ist eben keine lockere Frau, die sich selbst
nicht im Griff hat und leicht zu haben ist, sondern eine, die auf ihre Ehre achtet
und moralisch unanfechtbar lebt. Obwohl das Wort „Tugend“ nur dieses eine
Mal vorkommt, ist die Sache, um die es geht, natürlich an vielen Orten im Alten
Testament zu finden: Ein Leben in Selbstbeherrschung, die auf der Gottesfurcht
basiert.
Die beiden Stellen im Neuen Testament, wo Tugend eigens genannt ist, finden
sich in Abschnitten aus Briefen an Christen, die zu einem Gott wohlgefälligen
Leben ermutigt werden sollen. Paulus ermuntert die Christen in der
nordgriechischen Stadt Philippi dazu, positiv zu denken und zu reden. Sie sollen
auf „Tugend“ bedacht sein. (Philipper 4, 8)
Und im zweiten Petrusbrief wird geradezu ein sich immer weiter steigernder
Weg der Tugend“ beschrieben. Die Grundlage ist der Glaube, aus dem die
„Tugend“ hervorgeht. Diese bringt dann eine ganze Reihe von guten
Lebenshaltungen hervor – die Tugend wirkt sich aus in „Erkenntnis“, diese
bewirkt „Mäßigkeit“, und die Mäßigkeit bewährt sich in der „Geduld“. Die
Geduld bringt „Frömmigkeit“ hervor, und diese wird vollendet in der
„brüderlichen Liebe“ und führt schließlich zur „Liebe zu allen Menschen“ (2.
Petrus 1, 5-7).
So soll der Christ von einer „Tugend“ zur nächsten voranschreiten soll und so in
allem Jesus Christus nachfolgen.
Das griechische Wort, das in der Lutherbibel als „Tugend“ übersetzt wird, ist ein
beiden Fällen aretä. Das bedeutet wörtlich „Männlichkeit“ oder „Mannbarkeit“.
So übersetzt die lateinische Bibel diesen griechischen Ausdruck folgerichtig als
„virtus“ von „vir“, der Mann.

Was Tugend eigentlich meint

Dass nicht nur Männer in diesem Sinne „mannbar“, „stark“ oder „tugendhaft“
sein können, hat das Beispiel von Ruth gezeigt. Alle Christen sind aufgefordert,
ihrem Beispiel zu folgen und ihr Leben bewusst und mit Überzeugung nach dem
Maßstab der Tugend zu gestalten.
Das erfordert ein bewusstes Nachdenken über die Tugend und all das, was ihr
wesensmäßig verwandt ist. So sagt es Paulus: „Was wahrhaftig ist, was ehrbar,
was gerecht, was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat, sei es eine
Tugend, sei es ein Lob - darauf seid bedacht!“ (Philipper 4, 8) Tugend geschieht
also nicht einfach so automatisch, sondern muss ins Auge gefasst, gewollt und
angestrebt werden.
Und Petrus betont, dass Tugend Teil eines Gesamtpakets ist, und dass es also
um die Gesamtheit der geistlichen Lebensgestaltung geht.
Und damit sind wir am entscheidenden Punkt. Das Wort Tugend meint eine
Grundeinstellung und eine Verhaltensweise zugleich. Eine ganz bestimmte Sicht
auf das Leben und den Willen, diese Sicht auch in der eigenen Lebenspraxis
umzusetzen. Tugendhaft leben zu wollen bedeutet, bewusst einen Maßstab für
sein Leben anzunehmen und ihn dann auch einzuüben und konkret zu
verwirklichen.

Die Tür zu einem Leben der Tugend

An vielen Stellen in seinen Briefen beschreibt Paulus, wie es zu solch einem
Leben der Tugend kommen kann. Eine klassische Stelle ist der Anfang des
praktischen Teils des Römerbriefs. In den ersten acht Kapiteln legt er dar, was
Gott in seiner Gnade für uns getan hat und endet mit dem Fazit: „So gibt es nun
keine Verdammnis für die, die in Jesus Christus sind.“ (Römer 8, 1) Nach einem
Einschub, bei dem es um die bleibende Bedeutung von Israel geht, wendet er
sich in den letzten Kapiteln der Frage zu, wie Christen denn jetzt praktisch leben
sollen. Was bedeutet die Erfahrung der unverdienten und geschenkten Gnade
Gottes für unser Verhalten? Den Übergang von dem, was Gott für uns getan hat
zu dem, was wir als Konsequenz daraus tun sollen, beschreibt er in den
unvergleichlichen Eingangsworten von Kapitel 12:
„Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr
eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist.
Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich,
sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was
Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.“
(Römer 12, 1-2)
Besser kann die Begründung biblischer Ethik nicht beschrieben werden. Paulus
macht deutlich: Die Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes führt zu einem neuen
Leben. Einem Leben, das sich als Maßstab das „Gute“ und „Wohlgefällige“ und
„Vollkommene“ gewählt hat. Einem Leben, in dem sich christliche Tugend
verwirklicht.
An dieser Stelle wird auch der scheinbare Gegensatz zwischen der Erfahrung
der Gnade Gottes und unserem eigenen Bemühen aufgehoben. Was manchmal
wie ein unüberbrückbarer Gegensatz aussieht, gehört in Wirklichkeit
unauflöslich zusammen. Es ist gerade die erfahrene Barmherzigkeit Gottes, die
uns motiviert und zu einem neuen Leben bewegt.

Glaube, der Gestalt gewinnt

Das Bemühen um Tugend, oder anders ausgedrückt, die Einübung neuer
Einstellungen und Handlungen ist also nichts Unevangelisches oder gar
Unbiblisches. Im Gegenteil! Gerade daran, dass unser Leben in eine neue Spur
kommt, wird deutlich, dass die Gnade Gottes bei uns zum Zug gekommen ist.
Unser Glaube an die rettende Gnade darf ja nicht zur Entschuldigung für ein
ansonsten unverändertes, eigensinniges und selbstbezogenes Leben werden.
Nein, gerade in der Disziplin der Nachfolge zeigt sich die Wirklichkeit und die
Wirksamkeit dessen, was Jesus uns schenkt.
Unser Glaube soll und kann Gestalt gewinnen. Und die Tugend ist eine der
grundlegenden Gestalten geistlicher Existenz. Die von Paulus im Brief an die
Galater (5, 22) genannten „Früchte des Geistes“ sind im eigentlichen Gestalt
gewordene Tugenden. Sieben zählt er auf: Liebe, die zur Tat wird, Frieden, der
um sich greift, Freude, der die sichtbar ist, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit,
Treue, Sanftmut und Reinheit.
In den gelebten Tugenden wird der unsichtbare Glaube sichtbar. Wer einem
wahrhaft tugendhaften Menschen begegnet, spürt, dass ihm mehr entgegentritt
als nur dieser Mensch an sich. Das, was in ihm Gestalt gewonnen hat, ist
transparent. Das, was durch ihn hindurch scheint, ist mehr als neu eine Idee oder
ein fester Wille. Es ist Jesus selbst in seiner Reinheit, seiner Sanftmut, seinem
Frieden, seiner Freude, seiner Treue und Entschlossenheit, seiner Demut und
Leidensbereitschaft, der hier in einem Menschen Gestalt gewinnt.

Der Weg zur Tugend

Keiner wird tugendhaft geboren. Ebenso wenig kommt niemand durch und
durch verdorben auf die Welt. Was wir heute sind, ist das Ergebnis vieler kleiner
und großer Entscheidungen. Das, was wir in der Vergangenheit gedacht, gefühlt,
geliebt und getan haben, hat einen Einfluss auf uns.
Durch die Gegenwart des Geistes Gottes in unserem Leben haben wir die reale
Möglichkeit, mit der Vergangenheit zu brechen und neu zu starten. Doch diese
Chance muss ergriffen werden. Deshalb finden wir in der Bibel nicht nur
Zusagen, sondern auch Aufforderungen. Christsein ist nicht nur ein Zustand,
sondern auch ein Werden. Die Ermutigung des alt gewordenen Apostels Paulus
an seinen jüngeren Mitarbeiter Timotheus ist nur eine davon: „Kämpfe den
guten Kampf des Glaubens, ergreife das ewige Leben, zu dem du berufen bist!“
(1. Timotheus 6, 12).
Ein Leben der Tugend fällt uns nicht in den Schoß. Es ist ein Weg der Übung,
ein Weg, bei dem man immer wieder neu den Entschluss fassen muss, sich
selbst zu überwinden und das Richtige zu tun, auch wenn die Gefühle diese
Entscheidung nicht unterstützen. Wer sich von seinen Vorlieben und Launen,
von seinen Stimmungen und Verstimmungen bestimmen und leiten lässt, ist fern
vom Pfad der Tugend. Doch wer sich immer neu dafür entscheidet, das in die
Tat umzusetzen, was wahr und gut ist und was dem Willen Gottes entspricht,
der wird entdecken, dass dieser Weg seinen eigenen Lohn mit sich bringt.
Allein muss jedoch keiner bleiben. Denn der Helfer, der Tröster, den Jesus
verheißen hat, der Geist Gottes, will und wird uns in alle Wahrheit leiten.
(Johannes 16, 13)
Und diese Wahrheit ist eben nicht nur ein theoretisches Gedankenspiel. Die
Wahrheit, von er Jesus hier spricht, ist die Wahrheit eines Lebens, das „in der
Wahrheit“ gelebt wird. Ein Leben, das ihn widerspiegelt, bis in die ganz
konkreten Einstellungen und Verhalten im Alltag. Denn Tugend ist kein
Hauptwort, sondern ein Tätigkeitswort. Das, was am Ende zählt, ist das, was wir
wirklich tun. Was wir denken, wie wir reden, was wir tun. Diese Wahrheit
drückte der Theologe Martin Kähler unübertroffen aus in seinem Gebet: „Hilf
aus den Gedanken ins Leben hinein, ganz ohne Wanken dein Eigen zu sein.“

© roland werner, zuerst erschienen in Aufatmen 2007, 1-4.


 

Kleine Tugendlehre – Teil 2

Die Suche nach Erkenntnis

So wendet alle Mühe daran und erweist in eurem Glauben Tugend und in der
Tugend Erkenntnis.
2. Petrus 1, 5-8
Nehmt meine Zucht an lieber als Silber und achtet Erkenntnis höher als
kostbares Gold. Denn Weisheit ist besser als Perlen, und alles, was man
wünschen mag, kann ihr nicht gleichen.
Sprüche 8, 10-11
Alles, was zum Leben und zur Frömmigkeit dient, hat uns seine göttliche Kraft
geschenkt durch die Erkenntnis dessen, der uns berufen hat durch seine
Herrlichkeit und Kraft.
2. Petrus 1, 3

Das Verhältnis von uns Christen zur Erkenntnis war nicht immer einfach.
Brauchen wir überhaupt Erkenntnis? Reicht es nicht aus, einfach zu glauben?
Zeigt sich starker und echter Glaube nicht gerade dadurch, dass er auf Wissen
und Erkenntnis verzichtet?
Und hing nicht auch der Sündenfall mit dem Versuch des Menschen zusammen,
Erkenntnis gewinnen zu wollen? Ist die Suche nach Erkenntnis nicht die Wurzel
vielen Übels? Schließlich hat schon Matthias Claudius in seinem Abendlied über
die Menschen gesagt: „Sie spinnen Luftgespinste und suchen viele Künste und
kommen weiter von dem Ziel.“ Ist es nicht besser, einfach und schlicht wie ein
Kind zu glauben und das Streben nach Erkenntnis den Gelehrten zu überlassen?

Das Lob der Erkenntnis

Doch der 2. Petrusbrief zeigt einen anderen Weg. Für Petrus gehört in seiner
„kleinen Tugendlehre“ Erkenntnis unbedingt zu den erstrebenswerten Dingen,
direkt nach dem Glauben und vor der Mäßigkeit, die zur Geduld führt, aus der
Frömmigkeit erwächst und daraus geschwisterliche Liebe, und aus ihr wiederum
die Liebe zu allen Menschen – so die Reihenfolge der Tugenden (2. Petrus 1, 5-
7). Auch ein Blick in die Konkordanz zeigt, dass „Erkenntnis“ in der Bibel
keineswegs ein negativ besetzter Begriff ist. Der junge König Salomo betete:
„So gib mir nun Weisheit und Erkenntnis, dass ich vor diesem Volk aus- und
eingehe; denn wer kann dies dein großes Volk richten?“ (2. Chronik 1, 10) Ein
Gebet, das Gott wohlgefiel, so dass er Salomo das gab, was er erbeten hatte, und
noch viel mehr darüber hinaus.
Der Dichter von Psalm 119 betet ebenfalls um Erkenntnis: „Lehre mich
heilsame Einsicht und Erkenntnis; denn ich glaube deinen Geboten.“ (Psalm
119, 66) Dieser Psalm, der nach dem hebräischen Alphabet aufgebaut ist, war
eine Art Standardgebet für den frommen Juden und wurde von jedem auswendig
gelernt. So gehörte die Bitte um Erkenntnis zum Grundgestein israelitischer
Frömmigkeit.
Geradezu ein „Hoheslied der Erkenntnis“ wird im Buch der Sprüche gesungen:
„Mein Sohn, wenn du meine Rede annimmst und meine Gebote behältst, so dass
dein Ohr auf Weisheit acht hat, und du dein Herz der Einsicht zuneigst, ja, wenn
du nach Vernunft rufst und deine Stimme nach Einsicht erhebst, wenn du sie
suchst wie Silber und nach ihr forschest wie nach Schätzen: dann wirst du die
Furcht des Herrn verstehen und die Erkenntnis Gottes finden. Denn der Herr
gibt Weisheit, und aus seinem Munde kommt Erkenntnis und Einsicht. Er lässt
es den Aufrichtigen gelingen und beschirmt die Frommen. Er behütet, die recht
tun, und bewahrt den Weg seiner Frommen. Dann wirst du verstehen
Gerechtigkeit und Recht und Frömmigkeit und jeden guten Weg. Denn Weisheit
wird in dein Herz eingehen, und Erkenntnis wird deiner Seele lieblich sein,
Besonnenheit wird dich bewahren und Einsicht dich behüten.“ (Sprüche 2, 1-11)
So ist Erkenntnis ein hohes Gut und unbedingt erstrebenswert.
Auch der Mangel an Erkenntnis wird immer wieder thematisiert. So lässt der
Prophet Hosea im Auftrag Gottes einen Weheruf Gottes ertönen: „Mein Volk ist
dahin, weil es ohne Erkenntnis ist. Denn du hast die Erkenntnis verworfen;
darum will ich dich auch verwerfen, dass du nicht mehr mein Priester sein sollst.
Du vergisst das Gesetz deines Gottes; darum will auch ich deine Kinder
vergessen.“ (Hosea 4,6) So sehen wir im Alten Testament ein einheitliches Bild.
Der Mensch soll sich um Erkenntnis bemühen, darum beten und danach sterben.
Und auch im Neuen Testament wird die Erkenntnis immer wieder gelobt. Paulus
betet darum, dass die Christen erfüllt werden „mit der Erkenntnis des Willens in
aller geistlichen Weisheit und Einsicht.“ (Kolosser 1, 9) Und im 2.
Korintherbrief führt er gleich zwei Tugendlisten auf, die der des 2. Petrusbrief
ähnlich sind. In beiden gehört Erkenntnis zu den wichtigsten Gliedern. In der
einen beschreibt er die Werte, Überzeugungen und Arbeitsweisen, die ihn leiten:
„…in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im heiligen
Geist, in ungefärbter Liebe, in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit
den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken…“ (2. Korinther 6,
6), und in der anderen lobt er die Christen in Korinth: „Wie ihr aber in allen
Stücken reich seid, im Glauben und im Wort und in der Erkenntnis und in allem
Eifer und in der Liebe…“ (2. Korinther 8, 7)
Erkenntnis ist also ein biblisches Grundwort. Sie gehört zu den Tugenden eines
Menschen, der Gott fürchtet und ihm folgt.

Die Erkenntnis von Gut und Böse

Warum wird dann Erkenntnis von vielen Christen kritisch beäugt? Warum hat
sich in der Geschichte der Christenheit immer wieder eine Skepsis gegen
Erkenntnis eingestellt, die bis hin zu völliger Ablehnung von Wissenschaft und
Wissenserwerb ging?
Das hängt sicher damit zusammen, dass es in der Bibel auch kritische Aussagen
zur Erkenntnis gibt. Adam und Eva nahmen die Frucht vom Baum der
Erkenntnis, verführt von der Schlange, die ihnen sagte, dass sie dadurch wie
Gott werden könnten, und Gut und Böse erkennen würden. (1. Mose 3) Diese
Schicksalsgeschichte der Menschheit erschließt sich erst dann richtig, wenn wir
verstehen, dass das Wort „erkennen“ im Hebräischen ganzheitlicher und
umfassender gebracht wird als bei uns. „Erkennen“ meint zum Beispiel auch die
eheliche Gemeinschaft: „Adam „erkannte“ seine Frau Eva, und sie wurde
schwanger…“ (1. Mose 4, 1) Wenn also Adam und Eva das „Gute“ und das
„Böse“ erkennen wollten, so heißt das auch, dass sie das Böse nicht nur von
außen, sondern auch von innen erkennen wollten. Genau das ist es, wogegen die
Propheten und Apostel sich wandten. Erkenntnis im Namen Gottes bedeutet, das
Gute, oder und auch den Guten zu erkennen und nicht, Gutes und Böses
gleichermaßen am eigenen Leib und mit der eigenen Seele zu erfahren. Diese
gefährliche Suche nach Erkenntnis des Bösen sehen wir auch im letzten Buch
der Bibel. Dort wird von einer Gruppe unter den Christen in der Stadt Thyatira
berichtet, die „die Tiefen Satans“ erkennen wollten. (Offenbarung 2, 24) Wie
immer man sich das auch vorstellen mag, dieser Weg führt bestenfalls ins
Nichts, im schlimmsten Fall in Abhängigkeiten und Unfreiheit.
Denn um das Gute zu erkennen, brauchen wir nicht auch gleichzeitig das Böse
zu „erkennen“. So wie Falschgeld einem geübten Bankbeamten dadurch auffällt,
das es anders aussieht und sich anders anfühlt als das echte Geld, so entwickelt
sich ein Gefühl für das, was Gut und Böse, Richtig und Falsch ist nicht dadurch,
dass man einmal alles ausprobiert, sondern dass wir uns auf das Gute
konzentrieren. So entwickelt sich die Unterscheidungsgabe, mithilfe derer wir
Gut und Böse auseinander halten können, nicht nur theoretisch, sondern mit
unserem ganzen Sein und Wesen. Diesen Weg der Erkenntnis beschreibt der
Hebräerbrief: „Feste Speise aber ist für die Vollkommenen, die durch den
Gebrauch geübte Sinne haben und Gutes und Böses unterscheiden können.“
(Hebräer 5, 14)

Der Irrweg der Gnosis

Dieses Bestreben, alles gleichermaßen erkennen und erfahren zu wollen, ist also
nicht der biblische Weg der Erkenntnis. Erkenntnis hat in der Bibel immer einen
Gottesbezug, und daraus folgend, eine ethische Dimension. Das bedeutet, dass
Erkenntnis niemals nur eine theoretische Angelegenheit ist, ein ausgefeilter
Denkvorgang, sondern dass Erkenntnis verwurzelt sein muss in der Beziehung
zu Gott und dann auch notwendigerweise Auswirkungen hat in der praktischen
Gestaltung des Lebens.
Genau diesen doppelten Bezug – den zu Gott in seiner Heiligkeit, seiner
Wahrheit und Gerechtigkeit – und den zum konkreten Tun des Guten,
vernachlässigte die Bewegung der Gnosis. Ihr Name war Programm. Die Gnosis
- das griechische Wort für Erkenntnis - entstand etwa zeitgleich zum
Christentum und versuchte in den ersten zwei bis drei Jahrhunderten, die
christliche Kirche von innen her zu übernehmen. Die Gnosis bediente sich
vielfach der biblischen Begriffe, sie sprach von Christus, von Gott und vom
Geist, und doch veränderte sie den Sinn vollkommen. So war sie – jedenfalls die
sogenannte „christliche Gnosis“ - äußerlich dem christlichen Glauben sehr
ähnlich, im Inhalt jedoch vollkommen anders. Die Unterschiede sind gewaltig:
In der Gnosis war die geschaffene Welt minderwertig. Die Gnosis sagte kein Ja
zur Geschöpflichkeit, also auch nicht zur Körperlichkeit. Die Seele war bei ihr
der „göttliche Funken“, der aus dem Gefängnis der Materie befreit werden
musste. Deshalb meinte sie auch, die Welt sei nicht durch den wahren Gott
geschaffen, sondern durch einen bösen Schöpfergott. Christus sei jedoch vom
wahren Gott gesandt worden, um die Seelen der Menschen aus der Hand des
Schöpfers und auch aus der Gefangenheit in ihrem Körper zu befreien, und zwar
nicht dadurch, dass er selbst Mensch wird und am Kreuz stirbt, sondern dadurch,
dass er ihnen das „geheime Wissen“, eben die Gnosis vermittelt. Der Sündenfall
des Menschen besteht in der Gnosis nicht in Fehlentscheidungen und
gottwidrigen Handlungen, sondern einfach darin, dass der Mensch nicht erkennt,
dass er eigentlich göttlichen Ursprungs ist. Er kann sich aber letztlich selbst
erlösen, wenn er nur erkennt, wer er wirklich ist.
So ist in der Gnosis die geschaffene Welt unwichtig, die Sünde ist nicht Sünde,
Christus ist nicht der Erlöser aus der Sünde und aus dem Gericht, sondern
höchstens ein Seelenführer, Gott ist gespalten und das Vertrauen auf ihn spielt
keine Rolle, da es nur auf Erkenntnis ankommt. Und in der Gnosis spielen Gut
und Böse keine Rolle; letztlich ist gleichgültig, wie jemand lebt, solange er nur
erkennt, dass er einen göttlichen Funken in sich trägt.

Die Tugend der Erkenntnis

Christliche Erkenntnis jedoch ist kein Erlösungsweg, sondern ist eingebettet in
unser „Sein vor Gott“, in unseren Glauben an Jesus und unseren Gehorsam
gegenüber dem Wort Gottes. Anders als die Gnosis verneint sie auch nicht die
Welt, sondern bemüht sich um ganzheitliches Erkennen. Ihr Ziel ist es, die Welt
zu begreifen, sich selbst zu erkennen und schließlich auch Gott zu erkennen.
Dabei weiß der Christ, dass sein Erkennen hier auf der Erde immer
bruchstückhaft bleiben wird (1. Korinther 13, 8-13). Erst wenn das
„Vollkommene“ erscheinen wird, erst wenn Gott selbst Himmel und Erde
erneuert (Offenbarung 21, 1ff), werden wir vollkommen erkennen, so wie wir
jetzt schon von Gott erkannt sind.
Welterkenntnis, Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis sind deshalb
gleichermaßen unsere Aufgabe und unsere Möglichkeit. Dabei hängen alle drei
eng aneinander. Ohne Gotteserkenntnis kann ich mich nicht selbst erkennen, wie
ich wirklich bin. Denn als Menschen existieren wir nicht „an sich“, sondern nur
in Bezug auf Gott. Der Kirchenvater Augustinus drückte diese Wahrheit so aus:
„Auf dich hin sind wir geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis dass es Ruhe
findet in dir!“
Wenn wir Gott erkennen, erkennen wir dann auch uns selbst. Wir erkennen, dass
wir nicht selbst Gott sind, sondern dass wir als seine Geschöpfe aus Gottes Hand
stammen, und dass wir ihn brauchen, seine Hilfe, seine Bewahrung, und auch
seine Vergebung. Wir erkennen im Angesicht Gottes, dass wir gleichzeitig
Sünder und Erlöste sind, dass wir zu Feinden Gottes wurden, und dass er uns
doch zu seinen geliebten Kindern macht.

Die Freiheit christlicher Erkenntnis

Auch die Welt erkennen wir erst im Angesicht Gottes so, wie sie wirklich ist:
„Durch den Glauben erkennen wir, dass die Welt durch Gottes Wort geschaffen
ist, so dass alles, was man sieht, aus nichts geworden ist.“ (Hebräer 11, 3)
Anders als der Buddhismus, der sie als „Maya“, als Illusion versteht, anders als
die Gnosis, die die Welt als böse und schmutzig verneint, und anders als der
Materialismus, der meint, dass Materie alles ist, was existiert, verstehen wir,
dass die Welt und Gott und wir selbst aufeinander bezogen sind. Die Welt
existiert nur durch den Willen Gottes, und Gott erhält sie nach seinem Willen.
Deshalb ist auch Naturwissenschaft dem Willen Gottes gemäß, denn sie
beschäftigt sich mit dem Werk Gottes. Ebenso sind die Berufe, die die Welt
bebauen, bewahren und nutzbar machen, dem Willen Gottes entsprechend.
Christliche Erkenntnis steht also nicht gegen Welterkenntnis. Gott erkennen
heißt nicht, sich von der Welt abzuwenden, sondern beinhaltet auch, sich der
Welt zuzuwenden, denn diese trägt die Spuren des Schöpferwirkens Gottes in
sich.
So führt christliche Erkenntnis in die Freiheit. Wir dürfen ein Ja sagen zur Welt,
zu den Künsten, zu den Wissenschaften, zur Forschung, zur Arbeit, zur Freude,
zum Spaß, zur Schönheit. Denn all dies hat Gott in die Welt hineingelegt.
Bildungsfeindlichkeit und Leibfeindlichkeit sind keine christliche Tugenden.
Ebenso werden wir dazu befreit, uns selbst zu erkennen, so wie wir wirklich
sind: Geliebt und gewollt, gefährdet und verstrickt, geborgen und beauftragt. Im
Licht der Gotteserkenntnis erkennen wir uns selbst und dürfen unser Haupt
erheben, weil Gott uns zu sich zieht.
Und wir erkennen Gott, wie er wirklich ist. Ihn erkennen wir im Angesicht von
Jesus Christus, der Gottes Ebenbild ist. Wenn wir Jesus anschauen, finden wir
Gott. Wir erkennen die Größe der Liebe Gottes, die alles Verstehen und
Erkennen übersteigt.
Die Suche nach Erkenntnis ist deshalb eine christliche Tugend, weil Gott uns in
seinem Ebenbild geschaffen hat. Ihn zu erkennen, und dadurch auch uns selbst
und die Welt um uns herum, ist Berufung und Auftrag des Menschen. Und
wahre Erkenntnis führt auch immer dazu, dass wir das Gute, Richtige und Gott
Wohlgefällige zu tun versuchen. Denn „es gibt nichts Gutes, außer man tut es“.
In diesem Sinn betete der große Theologe Martin Kähler vor hundert Jahren:
„Hilf aus den Gedanken ins Leben hinein, ganz ohne Wanken dein eigen zu
sein.“

© roland werner, zuerst erschienen in Aufatmen 2007, 1-4.


 

Kleine Tugendlehre – Teil 3

Die Liebe zu allen Menschen

Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.
Matthäus 5, 44

So wendet alle Mühe daran und erweist in eurem Glauben Tugend und in der
Tugend Erkenntnis und in der Erkenntnis Mäßigkeit und in der Mäßigkeit
Geduld und in der Geduld Frömmigkeit und in der Frömmigkeit brüderliche
Liebe und in der brüderlichen Liebe die Liebe zu allen Menschen.
2. Petrus 1, 5-7Die Christen sind im Fleische, leben aber nicht nach dem Fleische. Sie weilen
auf Erden, aber ihr Wandel ist im Himmel. Sie gehorchen den bestehenden
Gesetzen und überbieten in ihrem Lebenswandel die Gesetze. Sie lieben alle und
werden von allen verfolgt. Man kennt sie nicht und verurteilt sie doch, man tötet
sie und bringt sie dadurch zum Leben, Sie sind arm und machen viele reich; sie
leiden Mangel an allem und haben doch auch wieder an allem Überfluss, Sie
werden missachtet und in der Missachtung verherrlicht; sie werden geschmäht
und doch als gerecht befunden. Sie werden gekränkt und segnen, werden
verspottet und erweisen Ehre, Sie tun Gutes und werden wie Übeltäter gestraft;
mit dem Tode bestraft, freuen sie sich, als würden sie zum Leben erweckt.
Brief des Diognet, frühchristliche Schrift, ca. 150 bis 200 n. Chr.

Christen sind nicht besser, sie sind nur besser dran! Diesen häufig gehörten Satz
würde Petrus wohl nicht unterschreiben. Vor allem dann nicht, wenn er dazu
verwendet werden soll, um sich vor der Herausforderung zu drücken, an seinem
eigenen Charakter zu arbeiten. Vielleicht hätte er ihn so umformuliert: Zwar
sind Christen nicht automatisch besser als andere, weil von Natur her alle
Menschen Sünder sind. Und sicher sind Christen besser dran, weil sie Gottes
Vergebung und die Wirklichkeit des Heiligen Geistes in ihrem Leben erfahren
haben. Aber auf jeden Fall sollten Christen sich darum bemühen, „besser“ zu
werden. Denn das Geschenk der Gnade, das sie in Jesus erhalten haben, kann
und darf nicht ohne Folgen bleiben.
Und so zählt er in seiner „kleinen Tugendlehre“ im zweiten Petrusbrief eine
Reihe von Eigenschaften, oder besser gesagt, Lebenseinstellungen und
Verhaltensweisen auf, die für ihn ein Ausdruck der gelebten Gottesbeziehung
von Christen sind. Wie eine Perlenschnur aufgereiht erscheinen diese Tugenden:
Glauben, Erkenntnis, Mäßigkeit, Geduld, Frömmigkeit, brüderliche Liebe und
schließlich die Liebe zu allen Menschen.
Petrus – und bis zum Beweis des Gegenteils sehe ich ihn gemeinsam mit der
alten Kirche als Verfasser dieses häufig vernachlässigten neutestamentlichen
Briefs an - zeichnet damit eine Art Charakterbild eines gereiften Christen. Wenn
wir das Leben von Petrus selbst anschauen, merken wir, dass ihm diese
Eigenschaften auch nicht von selbst in den Schoß gefallen sind. Dennoch – oder
vielleicht gerade deshalb – malt er seinen Adressaten dieses Bild so deutlich vor
Augen. Im Tiefsten ist es ein Bild von Jesus. In ihm haben alle diese Tugenden
ihren vollkommensten Ausdruck gefunden. Und ein Christ ist nicht mehr und
nicht weniger als ein Mensch, der von Jesus Christus geprägt ist.

Glauben ohne Mühe?

Der zweite Petrusbrief beginnt seine Aufzählung ganz realistisch mit der
Aufforderung: „Wendet alle Mühe daran!“ Die von ihm beschriebenen
Lebenstugenden sollen also unter Mühe und Anstrengung erarbeitet werden.
Kein Wunder, dass manche Forscher allein schon hierin einen Beweis dafür
sehen wollten, dass diese Schrift in die Reihe der so genannten
„frühkatholischen“ Briefe gehören müsse, in der das urchristliche Prinzip „sola
gratia“ – „allein aus Gnade“ verlassen worden sei und sich die ersten Anzeichen
einer im Grunde unevangelischen Gesetzlichkeit offenbarten. Und dass deshalb
der geschichtliche Petrus nicht der Verfasser dieses Briefs sein könnte, sondern
ein späterer Schreiber, der schon nicht mehr von der Gnade allein bestimmt ist,
sondern von der ansetzenden kirchlichen Morallehre.
Doch stimmt es wirklich, dass Jesus selbst, und in seiner Nachfolge Petrus,
Paulus, Johannes und Jakobus nur von Gnade und Vergebung, von Annahme
und Versöhnung sprachen, ohne dass damit ein Anspruch auf Veränderung des
Lebens verbunden war? Stimmt das verbreitete Geschichtsbild überhaupt, das
davon ausgeht, dass die frühen Christen nur vom „Geist der Freiheit“ bewegt
waren, während gegen Ende des ersten Jahrhunderts dann die Frage des
Lebensstils in den Vordergrund getreten sei? Wer tiefer blickt, merkt, dass sich
nirgendwo im Neuen Testament, weder bei der Lehre von Jesus, noch bei
irgendeinem der Apostel dieser Gegensatz so aufrecht erhalten lässt. An keiner
Stelle wird Glaube ohne Gehorsam, Gewissheit des Heils ohne gelebte
Nachfolge oder die Erfahrung des Geistes ohne die daraus folgende
Veränderung des Lebens verkündigt.
Jesus selbst forderte seine Jünger auf: „Geht ein durch die enge Pforte!“
(Matthäus 7, 13) Und Paulus sprach vom „Kampf des Glaubens“ (1. Timotheus
6, 12) und beschrieb seine Lebenseinstellung mit den ergreifenden Worten: „Ich
jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung
in Christus Jesus.“ (Philipper 3, 14)
Immer wieder wird deutlich, dass Gottes Gnade kein Ruhekissen, sondern die
Motivation zu einem das ganze Leben umfassenden Einsatz ist. So bleibt es bei
dem klassischen Satz, den der Apostel Jakobus formulierte: „So ist auch der
Glaube, wenn er nicht Werke hat, tot in sich selber.“ (Jakobus 2, 17) Es gibt
kein Christsein ohne Bewegung, keinen Glauben ohne Bemühung, keine
Gottesbeziehung ohne ein erneuertes Leben. Auf diesem Hintergrund ist klar:
Die Aufforderung des Petrusbriefs, sich um die Tugenden zu bemühen, ist nichts
„unevangelisches“. Sie steht in keiner Weise im Gegensatz zur Lehre von Jesus
oder der frühen Apostel, sondern ist die logische Folgerung der geschenkten
Christusbeziehung.

Der Kampf um das Herz

Doch wonach sollen wir streben? Was sind die Werke, die wir tun sollen? Hier
ist es wichtig, genau hinzuschauen. Das Ziel von Petrus geforderten Bemühung
ist nicht etwa, Gnade zu erlangen oder bei Gott angenommen zu werden. Dies
wird uns ohne allen Zweifel ohne unser Verdienst oder eigenes Dazutun
geschenkt. Vielmehr ist das Ziel sehr weit gespannt. Als Folge der „Mühe“, als
letztes Glied der genannten Kette von Tugenden nennt er die „Liebe zu allen
Menschen“, die aus der „brüderlichen Liebe“, also der Liebe zu den Mitchristen,
erwächst.

Liebe zu allen Menschen - ein höheres Ziel ist fast nicht denkbar. Denn hier geht
es nicht etwas Äußeres, sondern um den Innenraum unseres Denkens und
Fühlens. Das uns vorgegebene Ziel ist nicht äußeres Wachstum, ein Mehr an
Einsatz oder ein Zugewinn von Wissen, sondern eine innere Transformation,
eine durchgreifende Wandlung des eigenen Herzens. Das ist die Einsicht, die
Petrus am Ende seines Lebens weitergeben will. In seinem ersten Brief fordert
er auf: „Heiligt Christus als Herrn in euren Herzen!“ (1. Petrus 3, 15) Auch hier
nennt er wiederum das Herz als entscheidenden der Kampfplatz. Denn die
Frage, ob wir zu echter geschwisterlicher Liebe durchdringen und dann weiter
zur Liebe gegenüber allen Menschen, entscheidet sich in unserem Herzen. In
ähnlicher Weise
„Habt eure Herzen gereinigt zu ungefärbter Bruderliebe!“ (1. Petrus 1, 22) Mit
dieser Aufforderung legt Petrus seinen Finger auf das tiefere Problem: Unser
Herz muss erst dazu befähigt, erzogen, oder, wie er hier sagt, gereinigt werden,
damit wir diese Liebe zu allen Menschen entwickeln und leben können. Der Ort,
wo es sich entscheidet, ob wir lieben können oder nicht, ist unser eigenes Herz.

Das Merkmal der Christen?

Nichtchristliche Zeitgenossen sagten in den ersten Jahrhunderten halb spöttisch,
halb bewundernd über die Christen: „Seht, wie sie einander lieb haben!“ Und
Tacitus, der kein Freund der Christen war, beklagte, dass sie – im Gegensatz zu
den heidnischen Römern – nicht nur für ihre eigenen Armen und Bedürftigen
sorgten, sondern auch für viele andere, und dass sie damit einen großen Einfluss
in der Gesellschaft ausübten. Die römische Christengemeinde allein versorgte
um 250 regelmäßig 1.500 Arme und Bedürftige, die nicht zur Gemeinde
gehörten, mit dem Lebensnotwendigen.
Wie steht es mit uns heute? Was wäre das für eine Welt, in der die Christen vor
allem durch ihre „allgemeine Menschenliebe“ bekannt wären? Wie sähen unsere
Gemeinden und Kommunen aus, wenn wir Christen diese Lektion wirklich
lernen und diese Tugend zum zentralen Thema unseres Lebens erheben würden?
Sicher geschieht es an vielen Stellen, dass Christen über den eigenen Horizont
hinaus sehen. Die Bereitschaft zum Spenden, also zum finanziellen Opfer, um
Menschen zu helfen, ist bei vielen Christen viel größer als im allgemeinen
Durchschnitt der Gesellschaft. Und doch bleibt die Frage, ob wir wirklich diese
„allgemeinen Menschenliebe“ ausstrahlen und ausleben, oder ob wir eher von
Abgrenzung, Kritiksucht, Richtgeist und Überheblichkeit geprägt sind. Die von
Petrus als Ziel des Tugendweges genannte Liebe zu allen Menschen ist
eigentlich nichts anderes als die Widerspiegelung der uneingeschränkten Liebe
Gottes, die allen gilt. Sie wird an vielen Stellen im Neuen Testament
beschrieben: „So sehr hat Gott die Welt geliebt…“ (Johannes 3, 16), „Gott
erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir
noch Sünder waren.“ (Römer 5, 8), und nicht zuletzt die klassische Aussage von
Paulus: „Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes,
unseres Heilandes, machte er uns selig…“ (Titus 3, 4f).
Liebe ist im Neuen Testament ein Hauptwort und ein Tätigkeitswort zugleich.
Liebe ist ein unveräußerliches Wesensmerkmal Gottes (1. Johannes 4, 16) und
ein unverzichtbarer Auftrag für die Menschen, die Gott „von Herzen
nachwandeln“ (Psalm 84, 6) wollen.

Schritte zur Menschenliebe

Dass uns diese „Liebe zu allen Menschen“ nicht von selbst in den Schoß fällt,
macht der zweite Petrusbrief deutlich, indem er einen Weg der Selbsterziehung
beschreibt, auf dem der Christ sozusagen Schritt für Schritt voranschreiten soll.
Das große Wort „Menschenliebe“ – auf griechisch „philanthropia“ – umfasst
viele Aspekte des Denkens, Fühlens und Handelns. Zu ihr gehört, dass wir die
anderen überhaupt zuerst einmal wahrnehmen, dass wir also so sehr von uns
selbst und unseren eigenen Belangen gelöst sind, dass wir unsere Augen auf das
richten können, was den anderen bedrückt oder erfreut. Zu dieser Wahrnehmung
kommt dann das Ernstnehmen, das Achten und Wertschätzen der anderen.
Interesse und Anteilnahme am Ergehen anderer Menschen sind also
unverzichtbare Bestandteile dieser „allgemeinen Menschenliebe“. Offene
Augen, offene Herzen und offene Hände gehören ebenso dazu wie die
Bereitschaft, anderen höflich und respektvoll zu begegnen. Hinschauen statt weg
zu sehen, zuhören statt die Ohren zu verschließen, zupacken statt achtlos
vorüber zu gehen – dies und mehr ist Ausdruck einer Liebe, die keine
Unterscheidungen vornimmt und sich allen zuwendet.
Jesus zeichnet das Bild eines Menschen, der diese bedingungslose Liebe lebt, in
seiner unvergesslichen Gleichnisgeschichte vom barmherzigen Samariter. In
seiner Fürsorge und Vorsorge nimmt die alle Grenzen überwindende
Menschenliebe Gestalt an. Dass er damit fast unbemerkt ein Bild von sich selber
zeichnete, der ja auch von den herrschenden religiösen Führern abgelehnt und
verachtet wurde, und sich gerade denen, die am Wegrand lagen, zuwandte,
verankert dieses Gleichnis noch tiefer im Leben und Wesen von Jesus selbst. So
ist es das Ziel christlicher Selbsterziehung, immer mehr in das Bild von Jesus
selbst hinein zu wachsen, ihm ähnlicher zu werden, dessen gesamtes Leben eine
einzige Offenbarung der Liebe Gottes war, die allen Menschen ohne
Unterschied gilt.

© roland werner, zuerst erschienen in Aufatmen 2007, 1-4.


 

Kleine Tugendlehre – Teil 4

Frömmigkeit

Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen und nimmt
uns in Zucht, dass wir absagen dem ungöttlichen Wesen und den weltlichen
Begierden und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben.
Titus 2, 11-12
So wendet alle Mühe daran und erweist in eurem Glauben Tugend und in der
Tugend Erkenntnis und in der Erkenntnis Mäßigkeit und in der Mäßigkeit
Geduld und in der Geduld Frömmigkeit und in der Frömmigkeit brüderliche
Liebe und in der brüderlichen Liebe die Liebe zu allen Menschen.
2. Petrus 1, 5-7

Frömmigkeit – das ist eins der Wörter, zu denen viele ein gebrochenes
Verhältnis haben. Mir geht es jedenfalls so. Und zwar aus mehreren Gründen.
Zunächst einmal empfinde ist dieses Wort als seltsam antiquiert – bis hin zu
unverständlich. Und das stimmt auch, denn der ursprüngliche Sinn des
altdeutschen Wortes – „tüchtig, nützlich“ – hat sich seit ein paar hundert Jahren
verändert. Und so erscheint an vielen Stellen, wo Martin Luther noch das Wort
„fromm“ verwendet hat, eine neue, verständlichere Übersetzung. Und dennoch
findet sich diese Wortwurzel nach wie vor an vielen Stellen in der Bibel, und
nicht zuletzt im täglichen Wortschatz. Und da ist es leider auch etwas
zweideutig. Bei dem Eigenschaftswort „fromm“ fällt mir unweigerlich das
negativ besetzte Wort „frömmelnd“ ein. Und wer will schon „brav und fromm“
sein? Ist es nicht viel spannender, „wild und waghalsig“ zu leben?
In unserem kleinen Tugendkatalog jedoch erscheint das Wort „Frömmigkeit“.
Wenn wir nicht einfach darüber hinweg lesen wollen, stellt sich die Frage: Was
heißt das eigentlich – Frömmigkeit? Und was heißt es, „fromm“ zu sein? Was
meint die Bibel mit diesen Worten und was können sie heute für uns bedeuten?

Frömmigkeit oder Gnade?

Beim Nachdenken darüber kommen in mir meine evangelischen Zweifel daran
auf, dass ein Mensch wirklich „fromm“ sein kann. Als Kind lernte ich ein Gebet
auswendig, das so lautete: „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den
Himmel komm!“ Schon diese Version des Gebets ist zweifelhaft, denn sie hört
sich so an, als wäre „Frommsein“ eine Voraussetzung zum Eingang in den
Himmel.
Dabei ist doch – so haben wir es von der Bibel gelernt und in der Reformation
noch einmal unterstrichen bekommen - Gottes Gnade die einzige und alleinige
Grundlage, auf der ein Mensch von Gott angenommen werden kann. Eben nicht
unsere eigene Gerechtigkeit oder unser „Frommsein“, sondern das, was Gott
selbst getan hat, durch Jesus Christus. Die vorauseilende Gnade Gottes, die
gerade auch den erreichen will, der nicht „fromm“ und anständig, wohlgesittet
oder gerecht ist. Die Gnade, die nicht nur für die „Frommen“ und Gerechten da
ist, sondern auch und gerade für die Sündern und Ungerechten.
Doch schlimmer als das naiv-kindliche Gebet ist seine populäre Verballhornung,
die man auch schon mal zu hören kriegt: „Lieber Gott, ich bin fromm, lass’ mich
in den Himmel kommen!“
Hier ist die biblische Botschaft ganz auf den Kopf gestellt. Statt Gottes
geschenkter Gerechtigkeit steht die Selbstgerechtigkeit im Zentrum: „Ich bin
fromm!“ So naiv dieses Gebet auch vorgebracht sein mag, so falsch ist es
dennoch. Denn keiner von uns ist im tiefsten „fromm“ oder auch gut, gerecht
und heilig. Keiner verdient es, aufgrund seiner Eigenschaften, seiner
Handlungen, seiner Frömmigkeit oder eigener Leistungen „in den Himmel zu
kommen.“
Ähnlich streift die Umdichtung eines anderen Kindergebets nicht nur haarscharf
am Ziel vorbei: „Ich bin rein, mein Herz ist rein…“ Wie bitte? „Mein Herz
mach rein!“ Das ist eine biblische Bitte. „Mein Herz ist rein…“ ist jedoch
massive Selbsttäuschung.
Das ist klar. Unser Herz ist eben nicht rein, und wir können durch unser eigenes
Frommsein eben nicht mal so eben auf eigene Kosten in den Himmel kommen.

Eine notwendige Tugend

Was machen wir jetzt? Sollen wir uns von dem Streben nach „Frömmigkeit“
ganz verabschieden? Sollen wir das Wort „fromm“ ganz aus unserem
Wortgebrauch streichen? Das geht natürlich nicht. Denn zu häufig und zu
selbstverständlich verwendet die Bibel dieses Wort. Und es gibt auch noch kein
neueres deutsches Wort, mit dem wir es ganz und gar ersetzen können. Und all
unseren Schwierigkeiten zum Trotz nehmen die Apostel Paulus und Petrus das
Wort in den Mund. Sie hatten offensichtlich keine Mühe, die Empfänger ihrer
Briefe zum Frommsein aufzufordern.
So schreibt Paulus an Titus: „..die heilsame Gnade Gottes… nimmt uns in Zucht,
dass wir absagen dem ungöttlichen Wesen und den weltlichen Begierden und
besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben.“ (Titus 2, 11-12)
Und Petrus fügt in seiner „kleinen Tugendlehre“ die „Frömmigkeit als ein
wichtiges, tragendes Element ein: „So wendet alle Mühe daran und erweist... in
der Geduld Frömmigkeit und in der Frömmigkeit brüderliche Liebe….“ (2.
Petrus 1, 5-7)
Was ist hier eigentlich wirklich gemeint? Welche Lebenshaltung, welches
Verhalten wollen die Schreiber des Neuen Testaments uns hier nahe bringen?
Wir kommen nur weiter, wenn wir uns von vorgefertigten Ansichten über
„Frömmigkeit“ verabschieden und versuchen, dem ursprünglichen Wortsinn auf
die Spur zu kommen. Die griechischen Wörter „eusebes“, das als „fromm“
übersetzt wird, und das Hauptwort „eusebeia“ – „Frömmigkeit“, kommen von
dem Tätigkeitswort „sebesthai“ „verehren“. Die Worte bezeichnen also nicht
eine Eigenschaft, die der Mensch in sich trägt, eine angeborene „Gutheit“ oder
„Bravheit“, und auch keinen angeborenen Charakterzug, sondern eine bewusst
gewählte Lebenseinstellung.

Auf Gott ausgerichtet

„Frommsein“ ist demnach keine religiöse Leistung, sondern eine Einstellung
gegenüber Gott. Eine Haltung, die anerkennt, dass es jemanden gibt, den zu
verehren richtig und angemessen ist.
Gott zu verehren, ihm gegenüber in Aufmerksamkeit und Ehrfurcht zu leben,
das ist der Kern der „Frömmigkeit“. Die kleine Vorsilbe, die die Griechen
angefügt haben, unterstreicht das noch einmal. Denn „eu“ bedeutet „gut“ oder
auch „ganz und gar“. Ganz und gar die Einstellung zu haben und zu leben, dass
Gott zu verehren ist, das heißt „fromm sein“.
Und das ist sehr wohl ein Ziel, das für Christen selbstverständlich sein sollte.
Denn die Gnade, die uns als Geschenk gegeben ist, soll uns ja nicht gleichgültig
gegenüber Gott machen. Sie darf nicht zur „billigen Gnade“ (Dietrich
Bonhoeffer) herabgesetzt werden, zu einer Art Lebensversicherung in Sachen
Himmel. Vielmehr soll sie unser Leben aktiv gestalten. Gottes Gnade soll und
muss ihre Wirksamkeit entfalten können und – unter anderem – auch dazu
führen, dass wir „fromm“, also gottesfürchtig und ganz auf ihn ausgerichtet
leben.

Ganz und wahr

Dieses ganzheitliche, das Leben umfassende Verständnis von „Frömmigkeit“ in
der Bibel zeigt auch ein Blick auf das erste Mal, wo dieses Wort im Alten
Testament überhaupt erscheint. Gleich im 4. Kapitel des ersten Mosesbuchs
wird die Frage nach dem „Frommsein“ gestellt. Gott stellt Kain zur Rede und
warnt ihn vor dem, was er dann doch machen wird: Seinen Bruder aus Neid und
Eifersucht zu erschlagen. "Warum senkst du deinen Blick, Kain? Wenn du
fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so
lauert die Sünde vor der Tür, sie giert nach dir, du aber werde Herr über sie."
(1. Mose 4, 6-7)
Das hebräische Wort, das hier mit „fromm“ übersetzt ist, lautet „tam“. Das
bedeutet vom ursprünglichen Wortsinn her „ganz, vollendet, vollständig,
unversehrt“ und auch „rechtschaffen“ oder auch „gerade richtig, genau, wie es
sein muss“. Der Mensch, der in diesem Sinn „fromm“ ist, ist jemand, dessen
Leben so ist, wie es sein sollte, Und zwar in allen Beziehungen, und besonders
in der Beziehung zu Gott.
Ganz so zu sein, wie man sollte, durch und durch echt und ehrlich zu sein,
rechtschaffen, verlässlich, auf Gott ausgerichtet – das ist in der Tat ein hohes
Ziel und eine große Tugend. „Fromm sein“ ist die Lebenseinstellung derer, die
Gott „von Herzen nachwandeln“ (Psalm 84). Drei der großen
Patriarchengestalten im Alten Testament werden als „fromm“ bezeichnet: Noah
(1. Mose 6, 9), Abraham (1. Mose 17, 1), Hiob (Hiob 1, 1). Sie waren ganz
eindeutig und ohne Hin- und Her „fromm“, also ganz und gar auf Gott
ausgerichtet, ehrfürchtig und mutig, unbeirrbar und stark, demütig und bereit,
alles für Gott zu wagen.

Stark und klar

„Fromm“ ist also ein Gütezeichen erster Ordnung in der Bibel. Auf diese Weise
ganzheitlich zu leben, zu denken, zu fühlen und zu handeln, ist das genaue
Gegenteil von dem, was man gemeinhin als „frömmelnd“ bezeichnen kann.
Ein „Frömmler“ ist ein Heuchler, einer, der vorgibt, fromm zu sein, aber statt
ganzheitlich für einen Sache, also für seinen Gott einzustehen, sich halbherzig
seiner Umgebung anpasst. „Frömmelei“ versucht, einen Schein zu erzeugen, wo
das Licht gar nicht da ist. „Frömmigkeit“ aber ist etwas, das aus dem Herzen
hervorkommt und das ganze Leben umfasst.
Wahre Frömmigkeit in diesem Sinne wird aus der Ehrfurcht vor Gott geboren
und führt zu einem gradlinigen, unerschrockenen Leben. Wer fromm ist, kann
gegen den Strom schwimmen und gegen den Sturm stehen. Denn die Wurzeln
seines Lebens reichen tiefer als nur bis zur gegenwärtigen Mehrheitsmeinung.
Er findet seinen festen Grund in Gott. Auf ihn ist er vor allem ausgerichtet. Ihn
beschäftigt zuerst, was Gott will, und erst danach, was Menschen wollen. Der
alte Satz beschreibt diese Haltung anschaulich: „Wer vor Gott kniet, kann vor
Menschen gerade stehen.“ Frömmigkeit ist also kein diffuses Gefühl und auch
keine äußere Gebärde, sondern eine Verwurzelung des Lebens in Gott. Fromm
leben heißt, auf Gott ausgerichtet zu leben. Und deshalb unabhängig von
Zeitströmungen in der Lage zu sein, das zu sagen und zu tun, was richtig,
gerecht und wahr ist.

Eindeutig leben

So zu werden, ist ein großes und lohnenswertes Ziel. Eine Neuentdeckung der
Frömmigkeit in diesem Sinn ist unbedingt notwendig. Denn was brauchen wir
mehr als starke Männer und Frauen, die eindeutig und unbeirrbar für
Gerechtigkeit und Wahrheit einstehen, für Gott und für Menschen? Die
Aufforderung zur Frömmigkeit erinnert mich daran, dass nur ein ganzheitliches
und eindeutiges Leben Sinn macht. Frömmigkeit ist mehr als „das Gefühl der
schlechthinnigen Abhängigkeit“ (Friedrich Schleiermacher). Frömmigkeit ist
eine das ganze Leben umfassende Herzenshaltung, die ihren Ausdruck in der
gelebten Nachfolge von Jesus findet. Meine Beobachtung ist, dass sich unsere
Zeit nach wirklich „frommen“ Menschen sehnt. Menschen, die eindeutig zu
ihrem Glauben und zu ihrem Gott stehen, nicht nur in Worten und Taten,
sondern in ihrem ganzen Sein. Solche Menschen überzeugen, weil bei ihnen
Kopf und Herz, Hand und Fuß zusammen wirken und sie so zu Wegweisern auf
die Wirklichkeit Gottes werden. Frömmigkeit ist also eine notwendige Tugend,
die wir Christen neu in den Blick nehmen und entwickeln sollten. Um Gottes,
um unserer selbst und auch um dieser Welt willen.

© roland werner, zuerst erschienen in Aufatmen 2007, 1-4.